L U S T W A N D E L N
„Lustwandeln“, die fast vergessene Kunst des gemächlichen und absichtslosen Streifens durch die Landschaft, dieser Titel verbindet als Metapher alle hier gezeigten Arbeiten.
Schnelligkeit und Zielfixierung engen oft unsere Wahrnehmung ein; und Fragen der Wahrnehmung sind es, die immer wieder Thema der Künstlerin Linde Hartmann sind.
Im Lustwandeln entkoppeln sich Raum und Zeit, Bilder entstehen und vergehen. Diese Art der Fortbewegung steht im krassen Gegensatz zum vorherrschenden Takt unserer an Effizienz und maximalen Output orientierten Welt.
Bei Linde Hartmann kann es der immer wiederholte Blick auf eine Mahonie vor dem Fenster sein, der zu unterschiedlicher Zeit sich mit ebenso unterschiedlichen inneren Bildern mischt und die vielfältigen Arten der Wahrnehmung des Augenblicks aufzeigt.
Wie in einer Versuchsanordnung reiht sie Bild an Bild, dem die immer gleiche lineare Grundkonstruktion zugrunde liegt. Und es beginnt ein Spiel: die Bewertung von Objekt und Hintergrund, Flächen und Formen. Die Positiv- und Negativformen wie auch die Farbpalette verändern sich. Immer neue Assoziationsketten entstehen. Das Bild als Ausgangspunkt und Projektionsfläche zugleich.
Schon in der vorausgegangenen Serie „Only Dogs“ spielt Linde Hartmann mit Wahrnehmung und Ausdruck. Allerdings dort, indem sie ihren Standpunkt immer wieder verändert. Das Ergebnis sind Bilder, die auch formal handschriftlich der veränderten Sicht angepasst sind.
Ein weiterer Aspekt der Arbeit Linde Hartmanns ist die Vielschichtigkeit des Sehens. Das Bild, das wir uns machen, entsteht nicht durch einen isolierten optischen Prozess wie eine Fotografie. In unser Sehen sind alle Sinneserfahrungen eingeschrieben.
So finden wir in dem großformatigen Bild „Lustwandeln“, das der Werkgruppe den Titel gibt, eigenartig in der Bewegung ruhende Figuren, jede in einer individuellen und gleichzeitig stilisierten Formulierung zwischen Kontemplation und Expression. Über den Bildgrund spinnt sich als zweite Ebene wie ein Netz eine Vielzahl kleiner Formen. Sie überlagern, schwirren und flirren, tanzen und taumeln und verweisen auf die Komplexität des Schauens.
Diese Strukturen verändern die darunter liegenden Farbflächen indem sie mit ihnen in Beziehung treten, sie unterordnen, sie aber auch aufladen und mit ihrer Energie anreichern. Durch die aufwändigen filigranen Überzeichnungen wird im Malprozess Zeit ganz konkret in das Bild eingeschrieben.
Lustwandeln ist der Titel, unter dem diese Bilder versammelt sind, aber auch die Umkehrung dieses Begriffs trifft auf die Arbeiten zu: Wandellust.
Die Lust am Wandel ist in Linde Hartmanns Werk Programm. Diese Lust an Veränderung und an spielerischer Verwandlung speist sich aus der Freude, in einem künstlerischen Prozess Entdeckungen zu machen und die Vielzahl aber auch Bedingtheit der Umsetzungsmöglichkeiten, die einem Sujet zu eigen sind, zum Vorschein zu bringen.
Auf diese Weise werden wir als Betrachter immer wieder überrascht und aufgefordert, verfestigte Betrachtungsweisen zu hinterfragen und an der Lust am Wandel teilzuhaben.
Ansgar van Zeul, April 2011